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Nicole Fischer - Expertin für Lernen und Familie

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In meinem Blog schreibe ich über die Themen Schule, Lernen und Familie. Sieh dich gern um. Über Kommentare und Anmerkungen freue ich mich!

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2024-10-18

Von wachsendem Gras und zu viel Druck

Ich stehe nicht besonders auf Pathos, doch ich muss einfach sagen: Lerntherapie und Lerncoaching sind meine Berufung. Ich kann mir kaum etwas Befriedigenderes vorstellen als die Arbeit mit Kindern und ihren Eltern. Gemeinsam Lösungen für Probleme finden, den Spaß am Lernen (wieder-)erwecken, den Kindern zeigen, was alles in ihnen steckt, das erfüllt mich mit großer Zufriedenheit. Wie ich schon an anderer Stelle erwähnte, lachen wir hier oft, bis sich meine Deckenbalken biegen - das ist dann besonders schön.

Es gibt jedoch auch immer wieder Situationen, die mich – bei aller professionellen Distanz – sehr traurig machen. Von einer dieser Situationen möchte ich heute erzählen:

Paul ist 11 Jahre alt. Er ist ein aufgeweckter, aktiver Junge, der zunächst etwas distanziert wirkte, jedoch von Stunde zu Stunde mehr aus sich herauskam. Anfangs hatte ich mehrere Diskussionen mit seiner Mutter, da sie nicht wollte, dass Paul und ich in den Stunden spielten. Sie meinte, spielen könne er auch zuhause, er solle lieber die vollen 50 Minuten nutzen, um an seiner Rechtschreibung zu arbeiten. Ich erklärte ihr, dass das Spielen ein wesentlicher Bestandteil meines Konzeptes sei, da das spielerische Vertiefen von Inhalten in den meisten Fällen viel mehr bewirke als stures Pauken. Außerdem fördere Spielen die Ausdauer und die Konzentration, sowie viele andere Kompetenzen, die für das Lernen von elementarer Bedeutung seien. Darüber hinaus sei das Lernen in der Lerntherapie viel intensiver als in der Schule, das könne kaum ein Kind 50 Minuten lang konzentriert durchhalten. Ich merkte, dass die Argumente sie nicht wirklich überzeugten, sie ließ mich von da an jedoch gewähren.

Nach den Sommerferien kam Paul gegen meinen und den Rat seiner Klassenlehrerin auf ein Gymnasium. Nicht, dass er in meinen Augen nicht das Potenzial dazu hätte, einmal ein gutes Abitur zu machen. Ich hätte dem noch etwas verspielten Jungen jedoch noch ein paar weniger stressige Jahre gegönnt, deshalb hätte ich eine Einschulung auf eine Gemeinschaftsschule favorisiert.

Doch Paul macht sich gut auf der neuen Schule. Er schreibt mittelmäßige bis gute Noten und hat sich in die Klassengemeinschaft integriert. Also alles prima – scheinbar.

Allerdings merkte ich seit einiger Zeit eine Veränderung. Paul schien in sich gekehrter, wollte in den Stunden nicht mehr spielen, sondern lieber gleich arbeiten. Machte er einmal einen Fehler, so zuckte er zusammen und wurde ganz hektisch. Ich versuchte ihm immer wieder zu erklären, dass Fehler nichts Schlimmes seien, doch er schien immer verbissener zu werden. Seine Mutter hörte es sich an, wenn ich ihr sagte, dass zu viel Druck schädlich sei und dem Kind die ganze Lust an der Schule nehmen könne, lächelte und nickte dazu, jedoch hatte ich nicht den Eindruck, dass die Worte sie erreichten.

In der letzten Stunde dann setzte Paul sich hin und sagte: „Ich wollte heute unbedingt hier herkommen.“ Ich antwortete, dass mich das freue und fragte ihn, ob es denn einen besonderen Grund dafür gebe, dass er so gern zu mir kommen wollte. Und dann begann er zu erzählen. Dass seine Mutter ihn die ganze Zeit anschreie. Dass sie ihn immer bestrafe, wenn er schlechte Noten habe. Dass er den ganzen Tag lernen müsse, sogar abends im Bett. Dass er sich ganz sicher sei, dass sie ihn nicht liebhabe. Dass er schon daran dachte, vom Dach zu springen, doch er hätte Angst, dass er „nur“ gelähmt sein könnte. Da saß dieser kleine, einmal so fröhliche Junge und all das Schreckliche brach aus ihm heraus.

Es ist natürlich völlig verständlich, dass Eltern sich Sorgen machen und sich für die Zukunft ihrer Kinder nur das Allerbeste wünschen. Ich bin selbst Mutter und weiß aus eigener Erfahrung, dass diese Sorgen irgendwie nie wirklich verschwinden. Und natürlich ist es auch wichtig, seine Kinder zu fördern und zu unterstützen. Doch es gibt ein ganz wundervolles Sprichwort und das lautet:

„Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht.“

Und ganz genauso ist es. Förderung ist das eine, Überforderung jedoch etwas völlig anderes. Ich erlebe es häufig, dass Eltern über das Ziel hinausschießen und mit aller Kraft versuchen, ihre Kinder zu guten Schülern zu machen. Dies führt in der Regel dazu, dass die Kinder sich gegen den Druck auflehnen, entweder aktiv, zum Beispiel durch auffällige Verhaltensweisen wie Aggressionen oder auch passiv, durch körperliche Symptome oder psychische Probleme wie Depressionen. Ich hatte auch schon Kinder in der Lerntherapie, die sich dem Druck der Eltern gebeugt hatten, teilweise sogar ganz gute Noten schrieben. Doch der Preis für diese guten Noten ist oft ein sehr hoher: Diese Kinder verlieren nicht nur den Spaß an der Schule, sondern am Leben. Wo sie fröhlich und kreativ sein sollten, funktionieren sie nur noch.

Und da frage ich mich immer: Wie könnte ich mich über gute Zensuren meines Kindes freuen, wenn mein Kind dadurch unglücklich wäre? Ganz wichtig dabei: Die allermeisten dieser Eltern, die ich bisher kennengelernt habe, lieben ihre Kinder. Sie wollen nur das Beste für sie, wählen dafür aber einen ungünstigen Weg.

Daher meine dringende Bitte: Wenn du merkst, dass dein Kind und du in diesen Strudel der Überforderung hineingeraten seid, dann hole dir Hilfe. Ein guter Lerntherapeut oder eine gute Lerntherapeutin können euch helfen, dort wieder herauszukommen. Es gibt so viele Wege, die zu besseren Noten führen – Druck ist der allerschlechteste!

Gestern erzählte ich Pauls Mutter mit seinem Einverständnis sehr eindringlich von unserer letzten Stunde. Das erste Mal nahm ich bei ihr so etwas wie Bestürzung wahr. Wir werden uns jetzt einmal wöchentlich treffen und gemeinsam mit Paul Strategien entwickeln, um das Lernen druckfreier zu gestalten. Auch Pauls Lehrer werden wir mit ins Boot holen. Ich hoffe sehr, dass Paul dadurch wieder zu dem fröhlichen Jungen werden wird, als den ich ihn kennengelernt habe.

Gestern Abend bekam ich noch eine Whatsapp-Nachricht von ihm: „Mama und ich gehen morgen nach der Schule Eis essen!“ Ein Anfang ist gemacht.

Vielen Dank fürs Lesen! Wie immer freue ich mich über Kommentare, Anregungen und Fragen – entweder gleich hier in der Kommentarfunktion oder per Nachricht. Auch Sprachnachrichten wie immer herzlich willkommen!

Admin - 11:04:45 | Kommentar hinzufügen

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